Literaturnobelpreis 1909: Selma Lagerlöf

Literaturnobelpreis 1909: Selma Lagerlöf
Literaturnobelpreis 1909: Selma Lagerlöf
 
Die schwedische Schriftstellerin erhielt den Nobelpreis in Anerkennung »des edlen Idealismus, des Fantasiereichtums und der seelenvollen Darstellung, die ihre Dichtung prägen«.
 
 
Selma Lagerlöf, * Gut Mårbacka (Värmland) 20. 11. 1858, ✝ ebenda 16. 3. 1940; ab 1881 Lehrerinnenausbildung in Stockholm, danach Lehrerin in Landskrona, 1891 führt ein königliches Stipendium zur Aufgabe des Lehrerinnenberufs, 1914 als erste Frau Mitglied der Schwedischen Akademie; Lagerlöf gilt als Hauptvertreterin der schwedischen Neuromantik.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Mårbacka, der väterliche Gutshof in der zentralschwedischen Provinz Värmland, war Zentrum ihres Lebens wie ihres Werks. »Nie«, so äußerte Selma Lagerlöf einmal, wäre sie »Schriftstellerin, nie Nobelpreisträgerin geworden«, wenn sie »nicht gerade hier auf diesem alten Hofe aufgewachsen wäre«. Tatsächlich hat die Kindheit hier mit zahllosen Erzählungen der Großmutter, der Tante und der Eltern sie maßgeblich geprägt.
 
 Der Beginn der schriftstellerischen Karriere
 
Die Trennung von Mårbacka wurde der Anstoß zum Schreiben: Seit 1881, als sie zur Ausbildung nach Stockholm und danach als Lehrerin nach Landskrona zog, trug sie sich mit dem Plan, ihre Heimat, das alte Värmland mit seinen vielen Sagen und Legenden, in einem Roman lebendig zu halten. 1888 gab der Verkauf des verschuldeten Hofs nach dem Tod des Vaters den letzten Anstoß, und 1891 erschien »Gösta Berling«, die Geschichte des wegen Trunksucht amtsenthobenen Pfarrers, der als strahlender, aber auch unsteter Anführer der skurrilen zwölf »Kavaliere« auf Gut Ekeby für ein wildes Jahr, voll von Lebenslust, aber auch voll von Katastrophen, das Värmland beherrscht, bevor er sich zu einem Leben in Armut und Pflichterfüllung entschließt. Viele weitere Geschichten sind in den episodisch gestalteten Roman eingewoben, historische, sagen- und legendenhafte. Sie alle sind nur durch die gemeinsame Zeit (1820er-Jahre) und den gemeinsamen Ort (Värmland) miteinander verbunden, sodass insgesamt ein ganz eigentümliches Panorama der alten schwedischen Landschaft entsteht. Mit diesem Werk gelang der Durchbruch, international allerdings — infolge einer positiven Besprechung des einflussreichen dänischen Kritikers Georg Brandes — früher und deutlicher als in Schweden selbst.
 
In die beiden folgenden großen Romane fließen Erfahrungen ein, die Selma Lagerlöf auf zwei Auslandsreisen nach Italien (1895) und Palästina (1899-1900) machte. »Die Wunder des Antichrist« (1897) erzählt von einer wundertätigen, Gemeinsamkeit stiftenden und innig verehrten Jesusfigur in der Kirche eines süditalienischen Städtchens, die sich als Antichrist herausstellt. »Jerusalem« (1901-02) ist die Geschichte der Auswanderung der Dalekarlier, einer Gruppe schwedischer Bauern, nach Jerusalem infolge einer religiösen Erweckung. Im Mittelpunkt steht das alte Großbauerngeschlecht der Ingmarsöhne und deren Zwiespalt zwischen dem Pflichtgefühl gegenüber dem ererbten Grund und Boden und dem christlichen Anspruch, sich freizumachen von allen irdischen Gütern. Dieser Roman, zum schwedischen Nationalepos erklärt, war ihr erster wirklich großer Erfolg.
 
Heute noch am meisten gelesen ist wohl »Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen« (1906-07), geschrieben im Auftrag des schwedischen Lehrerverbands: Nils, faul und boshaft, wird in einen Däumling verwandelt, reist mit den Wildgänsen in den Norden des Landes und kehrt geläutert zurück. Dabei entwirft Lagerlöf ein anschauliches Bild von Natur, Geschichte und Gegenwart Schwedens um 1900.
 
Außerdem entstehen zahlreiche Legenden (gesammelt unter anderem in »Christuslegenden«, 1904) und andere kürzere Erzählungen.
 
 Die literaturgeschichtliche Bedeutung des Werks
 
Mit ihrem Werk setzte Lagerlöf einen Kontrapunkt zum bis dahin in Skandinavien dominierenden Naturalismus, indem das Fantastische, das Sagen- und Märchenhafte, verbunden mit einem bewussten Willen zur Stilisierung, die möglichst präzise, naturwissenschaftlich untermauerte Wirklichkeitsdarstellung ablöst. Man ordnet es der Neuromantik zu, aber die eigentliche Quelle der Inspiration war die einfache, mündliche Erzähltradition, die sie in ihrer Kindheit kennen lernte. Faszinierend bis heute ist ihr bewusstes Festhalten an einem vormodernen, ja mythischen Weltbild: Immer sind der Einzelne, seine Mitmenschen, die gesamte Natur eingebunden in eine sinnerfüllte Schöpfungsordnung, einen Kosmos, in dem jedes einzelne Vorkommnis bedeutungstragend und zugleich auch ethisch relevant ist. Handelnde sind nicht nur die Menschen, sondern auch Tiere, Trolle, Geister, ruhelose Seelen der Verstorbenen und die unbelebte Natur. Zufälle gibt es nicht, alles steht im Dienst der vorbestimmten und wiederherzustellenden Ordnung, die am Ende der oft dramatischen Handlung erreicht wird.
 
 Das Drama der Nobelpreisverleihung
 
Der Verleihung des Nobelpreises ging eine Zerreißprobe im Komitee und der Schwedischen Akademie voraus: Carl David af Wirsén, der Ständige Sekretär und mächtigstes Mitglied der Gremien, der schon 1891 mit seiner ablehnenden Rezension des »Gösta Berling« zu Lagerlöfs schwerem Start in Schweden beigetragen hatte, widersetzte sich kategorisch. Ihr Stil entsprach nicht seinem klassizistischen Ideal, und noch 1908, anlässlich ihres 50. Geburtstags, riet er, sie solle zunächst »lernen, Schwulst und Künstelei zu vermeiden«. Dass sie in diesem Jahr den Nobelpreis nicht erhielt, rief in Schweden einen Sturm der Entrüstung hervor. 1909 machten dann viele Akademiemitglieder von vornherein klar, dass sie Wirséns Widerstand ignorieren würden. Sie erhielt den Literaturnobelpreis als erste Frau und als erste Schwedin »in Würdigung des hohen Idealismus, der lebendigen Einbildungskraft und der durchgeistigten Darstellung, die sich in ihren Werken offenbaren« — und Wirsén, durchaus konsequent, entzog sich seiner Aufgabe, die Laudatio zu halten.
 
Das Preisgeld verwendete Lagerlöf, einen Kreis ihres Lebens und Schaffens schließend, um »ihr ganzes Urväterheim« Mårbacka zurückzuerwerben, es wieder instand zu setzen und zu bewirtschaften. Damit habe sie, so ihre Begründung, »nur eine alte Dankbarkeitsschuld abgetragen, nur dem Hof wiedergegeben, was er ihr schenkte«. Trotzdem hegte sie immer Zweifel, ob sie das »teure Mårbacka« behalten dürfe, könnte sie doch andernfalls vielen Menschen helfen. Ihre menschenfreundliche Gesinnung, ein Grundzug auch ihres literarischen Werks, bewies sie dennoch immer wieder in großzügigster Weise. Noch im betagten Alter verhalf sie der von Deportation bedrohten Jüdin Nelly Sachs (Nobelpreis 1966), mit der sie einen über 20-jährigen Briefwechsel geführt hatte, zur Flucht aus Berlin. Als diese 1940 Schweden erreichte, war Selma Lagerlöf gerade gestorben.
 
Ihr weiteres Werk war umfangreich, brachte aber kaum mehr als Variationen früherer Themen. Neben zahlreichen kleineren Erzählungen und dem letzten großen Roman, der »Löwensköld-Trilogie« (1925-28), entstanden vor allem die Kindheitserinnerungen: »Mårbacka I—III« (1922-32).
 
W. Vollmer

Universal-Lexikon. 2012.

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